Interview

Den Haag: Erst anklagen, dann ermitteln?

jW sprach mit Klaus von Raussendorff, Gründungsmitglied des Internationalen Komitees für die Verteidigung von Slobodan Milosevic

F: Während sich im Süden Serbiens eine neue albanische Terrorgruppe formiert, wird in Den Haag der frühere jugoslawische Präsident Slobodan Milosevic als Hauptschuldiger der Balkankriege vorgeführt. Im Verfahren des Internationalen Straftribunals für das ehemalige Jugoslawien (ICTY) fand am 30. August die zweite Sitzung im Vorverfahren statt. Sie haben die Verhandlung verfolgt. Welches Resümee ziehen Sie?

Daß es sich um »die falsche Anklage vor einem falschen Tribunal« handelt, wie Milosevic bei seiner ersten Anhörung am 3. Juli sagte, hat sich voll bestätigt. Nun will die Chefanklägerin Carla Del Ponte die Anklage noch um den Vorwurf des Völkermords erweitern und über den Komplex »Kosovo« hinaus auf »Bosnien« und vielleicht »Kroatien« ausdehnen.

Richter May wollte von Frau del Ponte wissen, wann mit der erweiterten Anklageschrift zu rechnen sei. Sie kündigte eine weitere Ergänzung der Anklage wegen Kosovo für den 1. Oktober an, und für Ende Oktober eine neue Anklage zu Bosnien und Kroatien. Selbst den tribunalfreundlichen Medien fiel auf, daß sie in dieser Frage sichtlich in Bedrängnis kam. Teams des Tribunals sind bekanntlich seit Herbst 1999 auf dem Balkan unterwegs und suchen nach Beweisen und Zeugen, nach Massengräbern und Opfern. Mir scheint, daß sie dort nichts gefunden haben, was die Anklage stützen könnte. Der Vorwurf der Säumigkeit, den der Richter der Anklage machte, war deutlich herauszuhören. Er bestand darauf, daß das Datum für das Hauptverfahren in den ersten beiden Monaten des nächsten Jahres festgesetzt wird. Es wird derzeit mit einem Verfahrensbeginn im Herbst nächsten Jahres gerechnet.

Erinnern wir uns, daß die Anklage gegen Milosevic bereits am 26. Mai 1999 in die Welt gesetzt wurde. Damals begannen die in der Öffentlichkeit erzeugten Illusionen über die Ziele und Auswirkungen der NATO-Bombardierungen allmählich zu schwinden. Auch jetzt schien Frau del Ponte der Propagandaeffekt das Wichtigste. Nicht im Gerichtssaal, sondern Minuten später vor der Presse schleuderte sie den Vorwurf des Völkermords in die Welt, und zwar »starr vor Wut«, wie die Korrespondentin der Welt berichtete. Es muß jeden Juristen in der Welt alarmieren, wenn dieses Tribunal, das angeblich juristisches Neuland betreten soll, offenbar nach dem Motto vorgegangen ist »erst anklagen, dann ermitteln«. Sollte dies Schule machen - und das wird der Fall sein, wenn del Ponte ihren Prozeß gewinnt - dann könnten die Praktiken dieses Gerichts verheerende Auswirkungen auf die Rechtskultur vieler Länder haben.

F: Was hat Frau del Ponte denn derart aufgebracht?

Sie steht unter einem enormen Erfolgsdruck. Auf einem Plakat, das im Pressesaal von einem Friedensaktivisten hochgehalten wurde, stand auf Englisch: »Parteiisches Tribunal verschleiert NATO-Verbrechen«. Dies ist, kurz gefaßt, der Auftrag der NATO-Regierungen an das Tribunal. Aber er wird vom Personal des Tribunals nur in dem Maße ausgeführt werden können, wie die Öffentlichkeit mitspielt.

Man darf auch nicht übersehen, daß das Tribunal in Präsident Slobodan Milosevic einen »Angeklagten« besonderen Kalibers vor sich hat. Geistesgegenwärtig konterte er: »Das war sehr interessant, was ich jetzt gehört habe, und das beweist, was ich am 3. Juli gesagt habe, daß dies eine falsche Anklage ist. Ich wurde am 26. Mai 1999 angeklagt, dem 60. Tag der NATO-Aggression gegen Jugoslawien, als ich mein Land verteidigte, und das ist zweieinhalb Jahre her, und wir haben eben gehört, daß sie keine Beweise haben, daß sie in zweieinhalb Jahren die Anklage nicht vervollständigen können; das ist eine sehr lange Zeit für die Vervollständigung einer falschen Anklage.«

F: Milosevic ist bei seiner Haltung geblieben, die Gerichtshoheit dieses Tribunals nicht anzuerkennen. Welche Auswirkungen hat das?

Ob das Tribunal legitim und legal ist oder nicht, ist die Frage, die den »Fall Milosevic« - über die Verschleierung der NATO-Verbrechen hinaus - zu einem weltpolitischen Ereignis macht. Wird es den Hegemonialamächten der Welt gelingen, »Den Haag« so durchzuziehen, daß daraus ein Präzedenzfall wird, um von Fall zu Fall der imperialen Einmischung in schwachen Ländern durch Sondergerichte den Schein einer strafrechtlichen Legitimierung zu geben? Dieser machtpolitische Hintergrund dürfte allen Prozeßbeteiligten bewußt sein. Milosevic erweist den fortschrittlichen Kräften in der Welt mit seiner Nichtanerkennung des Tribunals einen unschätzbaren Dienst. Mit der kategorischen Weigerung, einen Anwalt mit seiner Verteidigung zu beauftragen, verweigert er dem Tribunal konsequenterweise auch in diesem Punkte die Anerkennung.

Milosevic kämpft für sein Recht, sich von Experten rechtlich beraten zu lassen. Der US-amerikanische Menschenrechtsanwalt Ramsey Clark konnte ihn erst Anfang August besuchen. 26 Tage wurde ein entsprechender Antrag von Milosevic verschleppt. Zweck dieses die Rechte des Angeklagten massiv verletzenden Manövers war offenbar, ihm so weit wie möglich zu erschweren, zur Frage der Illegalität des Tribunals einen sogenannten Präliminarantrag zu stellen. Dies hat Milosevic am 9. August, zum letztmöglichen Zeitpunkt, getan und Fristverlängerung beantragt. Ferner hat er nach der zweiten Anhörung eine längere Ausarbeitung zu dieser Frage schriftlich eingereicht.

Milosevic kann mit Hilfe namhafter internationaler Juristen wie Ramsey Clark, Hans Köchler und anderen nachweisen, daß der unter dem Druck der USA und ihrer Verbündeten zustande gekommene Beschluß des Sicherheitsrats gegen die UNO-Charta und gegen internationales Recht verstößt. Der Sicherheitsrat war nicht befugt, dem politischen Werkzeug der NATO den Schein eines »UNO-Gerichts« zu geben.

Interview: Oliver Wagner
junge Welt vom 07.09.2001


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