Der 16. Oktober 1998 - Ein tiefer Einschnitt in der deutschen Geschichte

Auszüge aus der Eröffnungsansprache von Gert Julius, Bezirksvorsitzender der PDS von Berlin-Tempelhof&Schöneberg, beim Kolloquium "Der ´Fall Milosevic´ - Das internationale Strafrecht und die neuen Kriege der Großmächte" im Schöneberger Rathaus am 2. März 2002:

Die Entscheidung des Bundestags vom 16. Oktober 1998, gegebenenfalls mit Beteiligung der Bundeswehr NATO- »Luftoperationen« gegen die Bundesrepublik Jugoslawien durchzuführen, stellt m. E. einen tiefen Einschnitt in der deutschen Geschichte dar. Mit ihm werden Kontinuität und Bruch zum Ausdruck gebracht - Kontinuität mit einer fortgesetzten Militarisierung der deutschen Politik; Bruch mit den politischen Traditionen, die von den Bürgerinnen und Bürgern der alten Bundesrepublik mit Bündnis 90/Die Grünen und mit der Sozialdemokratie verbunden waren.

Im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland ist bis heute noch festgehalten, dass die Bundeswehr »nur zu Verteidigungszwecken« eingesetzt werden darf. Dort steht auch, dass Angriffskriege verfassungswidrig sind. Der Bundestagsbeschluss vom 16. Oktober liest sich wie Hohn auf diese Verfassungs-Artikel.

Die Entscheidung vom 16. Oktober 1998 stellt einen vorläufigen Höhepunkt in einer Entwicklung dar, bei der die BRD und das »neue Deutschland« von 1990 an zunehmend in die Uniform des alten militaristischen Deutschlands, das in den vergangenen 125 Jahren allein in Europa drei Aggressionskriege führte und dabei zwei Weltkriege auslöste, hineinwächst.

Ende der siebziger und in den achtziger Jahren kam es - unter den Kanzlern Helmut Schmidt und Helmut Kohl - zur Militärpolitik der »Nachrüstung« und dem »star-wars«- Programm. Das war eine Hochrüstungspolitik, die die Welt an den Rand einer atomaren Katastrophe brachte. Dagegen entwickelte sich die bisher breiteste Bewegung im Nachkriegsdeutschland, die Friedensbewegung. Letztere wiederum ist eng mit der Grünen-Partei verbunden.

Nach der Vereinigung beider deutscher Staaten wurde im neuen, größeren Deutschland forciert an der Militarisierungs-Spirale gedreht. Die »Verteidigungspolitischen Richtlinien« propagierten bereits 1992 die Notwendigkeit von Bundeswehr-Einsätzen weltweit - zur Sicherung der Rohstoffzufuhr. Zum gleichen Zeitpunkt wurde das 200-Milliarden-Mark-Programm in Gang gesetzt. Ein Programm, mit dem die deutsche Armee angriffskriegsfähig gemacht werden sollte. Um dieses Ziel zu erreichen, benötigte man Großraum-Militärtransporter, Kampfhubschrauber, Eurofighter und sogenannte Krisenreaktionskräfte. Von diesem Zeitpunkt an begann auch die Springprozession der Bundeswehreinsätze »out of area«: von Kambodscha über Somalia bis nach Bosnien.

Doch anders als in den Jahrzehnten zuvor gibt es in den neunziger Jahren keine neue Bewegung gegen die beschleunigte Militarisierung des Landes - weder im Westen, obgleich hier die alte Losung »nach Rüstung kommt rieg« zunehmend bestätigt wird, noch im Osten, wo die Losung »Schwerter zu Pflugscharen« heute anachronistisch erscheint.

Die hohen Weihen, die der Krieg in der bürgerlichen Gesellschaft erfährt, erklären auch, weshalb sich die herrschenden »Linkskräfte«, die sich nach rechts bewegen, immer dem Lackmustest unterziehen: »Wie hältst du´s mit dem imperialistischen Krieg?«. Das war 1914 beim Ja der SPD zu den Kriegskrediten, als der Kaiser »keine Parteien mehr« kannte, so. Das wusste der Ex-Kommunist Wehner, als er 1959 mit dem Godesberger Programm das Ja der SPD zu Wiederbewaffnung und NATO festschrieb. Das war 1966 der Fall, als die SPD beim Eintritt in den Kabinettssaal der großen Koalition das Ja zu den Notstandsgesetzen mit der Möglichkeit des Einsatzes der Bundeswehr gegen Streikende abgegeben hatte.

Und das war im Wahljahr 1998 so. Da gab es zunächst die völkerrechtswidrigen US-Militärschläge in Afghanistan und im Sudan. Obgleich nicht direkt gefragt, schlug der Gefreite Fischer, Joseph, die Hacken zusammen und brüllte »Jawoll.« Nach der Wahl traten die noch nicht Regierenden Gerhard Schröder, Joseph Fischer und Ludger Volmer bei der westlichen Weltmacht Nr. 1 zum Appell an und erhielten ihr »briefing« für die sich abzeichnenden NATO-Militärschläge auf Serbien. Der US-Präsident habe dargelegt, dass die NATO die Durchsetzung der UN-Resolution militärisch erzwingen könne, so Schröder vor laufenden Kameras. Und dann wörtlich: »Und dann ist das so.« Als darauf die Reporter Clinton fragten, ob die Grünen nicht »ein Problem« seien, antwortete der US-Präsident mit schallendem Chauvi-Gelächter, er habe »genug andere Probleme in Amerika«. Worauf Schröder in präzisem Englisch eingriff: »That´s my problem!«

Bereits die Form des am 16. Oktober 1998 im Bundestag angenommenen Antrags ist höchst ungewöhnlich: Es ist ein Antrag der alten Bundesregierung, der die neue bindet, beschlossen in einer Übergangszeit, wobei selbst Liberale wie der Abgeordnete Burkhard Hirsch, bezweifelten, dass die Einberufung des alten Bundestags nach der Wahl eines - erheblich anders zusammengesetzten - neuen Bundestages verfassungsrechtlich möglich ist. Es handelte sich bei diesem Antrag nicht einmal um einen gemeinsamen Antrag von CDU/CSU, FDP, SPD und Bündnisgrünen, wie dies zuvor bei vergleichbaren Anlässen der Fall war. Allein die alte Bundesregierung wird als Antragstellerin ausgewiesen. Vor dem Durchschreiten dieses Antrags-Jochs konnte man SPD und Bündnisgrüne noch als Linksparteien bezeichnen. Nach Absolvierung dieses Initiationsritus mutierten beide Parteien zu Parteigängern des imperialistischen Krieges.

Eine ähnlich deutliche Sprache spricht der beschlossene Antrag selbst. Auf die zwei Tage zuvor neu eingetretene Situation - die Regierung Milosevic machte alle von den USA geforderten Zugeständnisse - wird mit keiner Silbe eingegangen - Mit Sicherheit, weil es nicht in die aufgebaute »Drohkulisse« passgepasst hätte. Die von SPD und Bündnisgrünen beschworene Notwendigkeit humanitärer Hilfe für die notleidende Bevölkerung im Kosovo wird im Bundestagsbeschluss mit keinem Wort erwähnt.

Der Bruch des Völkerrechts wird im Antrag unverblümt dort ausgesprochen, wo die Notwendigkeit der militärischen Aggression u. a. mit dem Verweis begründet wird, »in absehbarer Zeit (ist) keine weitere Resolution des UN-Sicherheitsrats zu erwarten, die Zwangsmaßnahmen mit Blick auf den Kosovo enthält«. Dabei sind nach der UN-Charta militärische Maßnahmen nur möglich, wenn sie auf einer entsprechenden Resolution des Sicherheitsrats beruhen und eine Gefahr für den Weltfrieden darstellen.

Sowohl die SPD als auch Bündnis 90/Die Grünen haben es als Regierung zu verantworten, dass sich entgegen dem Schwur unserer Väter "von deutschem Boden darf nie wieder Krieg ausgehen", Deutschland erstmalig nach dem 2. Weltkrieg wieder an einem Angriffskrieg beteiligt hat. Da mit dieser Beteiligung alle Antikriegsdämme gebrochen sind, ist die Beteiligung am Afghanistan- Abenteuer nur folgerichtig.

SPD und Bündnis 90/Die Grünen als Regierungsparteien sind dafür mit verantwortlich, dass in Jugoslawien durch die Bombardierung von Krankenhäuser, Elektrizitätswerken, Chemiefabriken, Fernsehsendern und Wohngebieten unzählige schuldlose Menschen verletzt, verstümmelt und mit ewiger Krankheit überzogen wurden oder vom Leben auf elendige Weise in den Tod befördert wurden.

Die PDS ist bisher die einzige Partei in Deutschland, die diese Kriegseinsätze ohne wenn und aber parlamentarisch und außerparlamentarisch abgelehnt hat Diese Ablehnung hat das Einverständnis wird von der Mehrheit der deutschen Bevölkerung nachhaltig unterstützt. Wir werden alles dafür tun, dass die PDS dieses Alleinstellungsmerkmal auch in Zukunft behält.

(...)

Die in diesem Land Herrschenden sitzen nicht im Kabinett. Sie treffen ihre Entscheidungen an anderer Stelle - u. a. in den Chefetagen von Daimler/Chrysler und der Deutschen Bank. Wer nun genau den Initiationsritus erfand, mit dem die Linksparteien SPD und Grüne am 16. Oktober 1998 ihre »Bündnistreue« - gemeint ihr Bündnis mit Kapital und imperialistischem Krieg - zu dokumentieren hatten, mag Angelegenheit der Geschichtsforschung sein. Ich würde mich nicht wundern, wenn belegt würde, dass BDI-Chef Henkel mit Kumpan Kopper diese famose Idee ausgeheckt hatte; ist doch von Herrn Henkel der treffliche Satz aus der Wahlnacht, als er Schröder besuchte, überliefert: »Ich bin immer auf der Seite der Sieger«.

(...)

Ich bin davon überzeugt, dass kapitalistische Konkurrenz, institutionalisierte Verdummung, antiaufklärerische Politik, und zunehmenden ökonomische Brutalisierung den Alltag auch in unserem Land bestimmen. Wenn die schein-fröhliche 630-Mark-Gesesellschaft in bunten Talk-Shows über ihre Geschlechtsorgane plaudert, Esotherik und Astrologie als moderne Religion gefeiert werden, Kriege auf dem Bildschirm und in den Medien als Unterhaltung geliefert und nicht als Mord an Menschen angeprangert werden und solange Mörder berechtigt verurteilt, dagegen tötende Krieger als Helden gefeiert werden und Profit als die höchste Stufe des Allgemeinwohls ausgegeben wird, erscheint mir das alte Rom als ein Kindergeburtstag der Dekadenz.

(...)

Zur Zeit ... ist es unsere gemeinsame Pflicht uns auch um die Opfer des NAT0-Krieges gegen Jugoslawien kümmern.


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