Schreiben von Ramsey Clark an die Vereinten Nationen
Der ehemalige Justizminister und internationale Menschenrechtsanwalt fordert die Abschaffung aller ad hoc-Tribunale, eine unabhängige Überprüfung des Verfahrens gegen Präsident Miloevic und die Bereitstellung von Mitteln an ihn für eine angemessene Entgegnung auf die Anklage.
12. Februar 2004
Betreff: Verfahren gegen Slobodan Miloevic, den ehemaligen Präsidenten der Bundesrepublik Jugoslawien, vor dem Internationalen Straftribunal für das ehemalige Jugoslawien
Sehr geehrter Herr Generalsekretär Annan,
Die Anklagevertretung im Verfahren gegen den ehemaligen Präsidenten der Bundesrepublik Jugoslawien wird nach dem vorgesehen Terminplan ihre Beweiserhebung vor dem Internationalen Straftribunal für das ehemalige Jugoslawien am 19. Februar 2004 beenden, mehr als zwei Jahre, nachdem der erste Zeuge aussagte.
Über 500.000 Seiten Dokumente und 5000 Videokassetten wurden als Beweismittel vorgelegt. Es gab etwa 300 Verhandlungstage. Über 200 Zeugen haben ausgesagt. Das Verfahrensprotokoll umfasst annähernd 33.000 Seiten.
Es ist der Anklagevertretung nicht gelungen, erhebliche oder zwingende Beweise für irgendeine strafbare Handlung oder Absicht von Präsident Miloevic vorzulegen. Mangels belastender Beweise hoffte die Anklagevertretung offenbar, einen so massiven Rekord aufzustellen, dass es Jahre dauern würde, falls überhaupt jemand sich die Mühe machen würde, bis Wissenschaftler das Beweismaterial prüfen und analysieren können, um festzustellen, ob es eine Verurteilung trägt.
Das Schauspiel dieses Generalangriffs eines gewaltigen Teams mit umfangreichen Mitteln zur Unterstützung der Anklage gegen einen einzelnen Mann, der sich selbst verteidigt, abgeschnitten von aller effektiven Hilfe, dessen Unterstützer überall angegriffen werden, und dessen Gesundheit wegen der dauernden Anstrengung im Schwinden ist, vermittelt ein den Kern der Sache treffendes Bild der Unfairness und der Verfolgung.
Dazu im Kontrast begann beim "ersten Prozess der Geschichte wegen Verbrechen gegen den Frieden der Welt" in Nürnberg die Anklage gegen 19 Angeklagte am 20. November 1945 und endete etwas über drei Monate später am 4. März 1946, nachdem vier Staaten das Beweismaterial beigebracht hatten. In seiner Eröffnung sagte der Chefankläger Robert H. Jackson
"Es gibt hier ein dramatisches Missverhältnis zwischen den Bedingungen für die Ankläger und die Angeklagten, das unsere Arbeit in Verruf bringen könnte, wenn wir schwanken sollten in dem Bemühen, selbst bei untergeordneten Sachverhalten, fair und maßvoll zu sein....Wir dürfen nie vergessen, dass das Beweisaufnahmeprotokoll, auf dessen Grundlage wir über diese Angeklagten richten, das Beweisaufnahmeprotokoll ist, auf dessen Grundlage die Geschichte morgen über uns richten wird. Diesen Angeklagten einen vergifteten Kelch zu reichen, bedeutet, ihn auch an unsere Lippen zu setzen."
Die Anklage begann ihre Ermittlungen gegen Präsident Miloevic unter Richard Goldstone aus Südafrika im Oktober 1994. Als er 1996 aus dem Amt schied, hatte er keine Beweise für eine Anklage gefunden. Seine Nachfolgerin, Louise Arbour aus Canada, setzte die Ermittlungen ohne förmliche Verfahrensmaßnahme bis Ende Mai 1999 fort, als Präsident Miloevic erstmals für angeblich Anfang 1999 begangene Taten angeklagt wurde.
Die Anklage erfolgte während der schweren Bombardierungen ganz Serbiens, einschließlich des Kosovo, durch USA und NATO, d.h. während eines Angriffskrieges. Dieser hatte Zivilisten in ganz Serbien getötet und Vermögen zerstört, deren Ersatz Milliarden Dollar kosten würde. Er hatte am 22. April 1999 bei einem Mordversuch die Wohnung von Präsident Miloevic in Belgrad zerstört. Die chinesische Botschaft wurde am 7. Mai 1999 bombardiert. Abgereichertes Uran, Streubomben und Superbomben hatten Zivilisten und zivile Infrastruktur gezielt angegriffen. Hunderte von zivilen Einrichtungen waren zerstört und Zivilisten von Novo Sad bis Nic und Pristina getötet worden.
Die ursprüngliche Anklage behauptete keine Verbrechen in Kroatien oder Bosnien. Sie behandelte ausschließlich Handlungen von serbischen Kräften im Kosovo im Jahre 1999. Ganz Serbien, einschließlich Kosovo, befand sich zur Zeit der Anklageerhebung unter schwerem Bombenhagel der USA und der NATO. Im Kosovo gab es keine US- oder NATO-Truppen und keine ICTY-Ermittler. Ermittlungen waren unmöglich. Die Anklage war ein rein politischer Akt, um Präsident Miloevic und Serbien zu dämonisieren und die Bombardierungen Serbiens durch die USA und die NATO zu rechtfertigen, die in sich selbst verbrecherisch waren und gegen die Charta der UN und der NATO verstießen.
Als US-Botschafterin bei den UN leitete Madeleine Albright die Bemühungen der USA, den Sicherheitsrat dazu zu bringen, das ICTY zu schaffen. Später schrieb sie in ihren Memoiren, dass sie als US-Außenministerin mehrer Jahre die Vertreibung von Präsident Miloevic aus dem Amt angestrebt hatte:
"Mit Kollegen, Joschka Fischer und anderen, drängte ich die serbischen Oppositionsführer, eine wirkliche politische Organisation aufzubauen und sich darauf zu konzentrieren, Miloevic rauszuschmeißen ... Öffentlich sagte ich wiederholt, die Vereinten Nationen wünschten Miloevic ´von der Macht weg, aus Serbien raus und im Gewahrsam des Kriegsverbrechertribunals.´ "
Präsident Miloevic wurde angeklagt und steht vor Gericht, weil er bestrebt war und entsprechend handelte, Jugoslawien zu schützen und zu erhalten, einen Bundesstaat, der für den Frieden auf dem Balkan von entscheidender Bedeutung war. Mächtige fremde Interessen, die nationalistische und ethnische Gruppen und Geschäftsinteressen innerhalb der einzelnen Republiken Jugoslawiens unterstützten, waren aus den verschiedensten Gründen entschlossen, Jugoslawien zu zerschlagen. Darunter an erster Stelle die USA. Deutschland spielte eine Hauptrolle. Später gab die NATO dem Unterfangen ihren Namen, unter Verstoß gegen die eigene Charta. Die daraus folgende Gewalt war vorhersehbar und tragisch.
Während des ganzen Krieges gab es keinen mehr zum Kompromiss bereiten politischen Führer als Präsident Miloevic, der die volle Entfesselung des Krieges verhinderte, als Slowenien, Kroatien, Bosnien und Mazedonien sich von der Bundesrepublik lostrennten. Hinsichtlich seiner späteren Verteidigung des auf Serbien und Montenegro reduzierten Jugoslawiens wird er in Erinnerung bleiben wegen der Kompromisse, die er in Dayton, Ohio, einging und später, um die US-Bombardements von März bis Juni 1999 zu beenden. In seinem Verhalten lag die Absicht des Friedens und des Überlebens einer Kernföderation von Südslawen, die eines besseren Tages den Samen für eine größere Föderation von Balkan-Staaten legen würde, die für den Frieden, die politische Unabhängigkeit und die wirtschaftliche Lebensfähigkeit der Region von entscheidender Bedeutung ist. Die USA und andere beabsichtigten etwas anderes.
Die Folgen waren für jeden der ehemaligen Staaten der Bundesrepublik katastrophal. Heute gibt es im ehemaligen Jugoslawien wirtschaftliche Einmischung von außen und Stagnation, politische Unruhe, öffentliche Unzufriedenheit und zunehmende Bedrohung durch Gewalt. Die USA umwerben Kroatien wegen seiner Mitgliedschaft in der NATO als Basis für europäische Truppen zur Kontrolle der Region und zur Aufrechterhaltung ihrer Spaltung. Kroatien hat eine kleine militärische Einheit entsandt, um die NATO in Afghanistan zu unterstützen und steht unter Druck, Truppen nach Irak zu entsenden und damit seine Konfrontation gegen die muslimische Bevölkerung in Kroatien und Bosnien fortzusetzen. US-Verteidigungsminister Rumsfeld traf am 8. Februar 2004 mit der nationalistischen Führung von Kroatien, darunter dem Präsidenten und dem Premierminister, zusammen. Er erklärte: "Ich sehe dem Tag entgegen, da Kroatien ein Teil (der NATO) wird."
Gegen den ehemaligen Präsidenten von Jugoslawien wird wegen der Verteidigung von Jugoslawien vor einem Gericht verhandelt, zu dessen Einrichtung der Sicherheitsrat keine Befugnis hatte. Der Präsident der Vereinigten Staaten aber, der offen und, wie nur allzu bekannt ist, einen Angriffskrieg, "das höchste internationale Verbrechen", gegen den wehrlosen Irak begangen hat, der Zehntausende von Menschen tötete und dort und anderswo Gewalt verbreitete, hat sich keiner Anklage zu stellen. Präsident Bush droht weiter mit unilateralen Angriffskriegen und drängt in den USA auf die Entwicklung einer neuen Generation von Atomwaffen, taktischen Atombomben, und dies nach der Invasion im Irak aufgrund der fingierten Behauptung, dass das Land eine Bedrohung für die USA ist und Massenvernichtungswaffen besitzt. Dies kann nur geschehen, weil Macht vor Recht geht.
Die Vereinigten Staaten können nicht hoffen, die Geisel des Krieges abzuschaffen, bis sie nicht willens sind, der Macht zu trotzen und vereint für das Prinzip des Friedens einzutreten. Bedarf es noch eines schlagenderen Beweises für die Absicht der USA, über dem Recht zu stehen und mit Gewalt zu herrschen, als der umfassende Versuch der USA, den Internationalen Strafgerichtshof zu zerstören und bilaterale Verträge durchzusetzen, in denen Staaten zustimmen, US-Staatsbürger nicht an den ISGH auszuliefern. Man betrachte diese Verhinderung von Recht im Zusammenhang mit der Erklärung des Ständigen Vertreters der USA bei den UN, Botschafter John Negroponte, vom 30. Juni 2002, worin er Immunität der USA vor ausländischer Strafverfolgung verlangte, ein Verlangen, dem sich der Sicherheitsrat unterwarf. Negroponte drohte mit einem Veto der USA gegen eine anhängige Resolution des Sicherheitsrates zur Verlängerung der friedenserhaltenden Mission der UN in Bosnien-Herzegowina, wenn der Sicherheitsrat für Personal, das für von ihm angeordnete friedenserhaltenden Missionen bereitgestellt wird, nicht Immunität, das heißt Straflosigkeit, gewährleisten würde. Der Zweck bestand darin, US-Personal und US-Hilfswillige über das Recht zu stellen, während die Feinde der USA Opfer diskriminierender Verfolgung vor völkerrechtswidrigen Gerichten sind.
Das ICTY und andere ad hoc Straftribunale, die vom Sicherheitsrat geschaffen wurden sind illegal, weil die Charta der Vereinten Nationen den Sicherheitsrat nicht ermächtigt, irgendein Strafgericht zu schaffen. Der Wortlaut der Charta ist eindeutig. Wäre eine solche Befugnis 1945 in die Charta aufgenommen worden, gäbe es keine UN. Keine der fünf Mächte, die späteren Ständigen Mitgliedern des Sicherheitsrats, wäre einverstanden gewesen, sich einer strafrechtlichen Befugnis der UN zu unterwerfen.
Der ISGH wurde durch Vertrag geschaffen, womit anerkannt wurde, dass die UN ohne Änderung ihrer Charta keine Befugnis hatten, einen solchen Gerichtshof zu schaffen. Die Gründung des ISGH sollte die Einrichtung irgendwelcher zusätzlicher Straftribunale ausschließen und erfordert die Abschaffung derjenigen, die noch bestehen. Sie wurden geschaffen, um den geopolitischen Bestrebungen der USA zu dienen. Die Angelegenheit ist von höchster Wichtigkeit. Es geht um die Entscheidung, ob der Sicherheitsrat selbst über der Charta und der Geltung von Recht und Gesetz steht.
Die ad hoc-Straftribunale sind ihrem Wesen nach diskriminierend, indem sie sich dem Grundsatz der Gleichheit in der Ausübung der Rechtsprechung entziehen. Die Diskriminierung ist beabsichtigt, um Feinde zu zerstören. Das Internationale Straftribunal für Ruanda hat in neun Jahren keinen einzigen Tutsi angeklagt, obgleich Faustin Twagirimungu, der erste Premierminister unter der Tutsi-RPF-Regierung 1994 und 1995 vor demselben aussagte, dass er glaube, mehr Hutus als Tutsis seien in Ruanda während der tragischen Gewalt des Jahres 1994 getötet worden. Hunderttausende von Hutus wurden später in Zaire, heute Demokratische Republik Kongo, abgeschlachtet und sind bis heute gefährdet. Das ICTR ist ein Instrument der US-amerikanischen Unterstützung für die Tutsi-Kontrolle über Uganda, Ruanda, Burundi und zeitweilig und vielleicht erneut die Demokratische Republik Kongo.
Die Strafverfolgung des ICTY richtet sich in der großen Mehrzahl gegen Serben und ausschließlich serbische Führer sind vor ihm angeklagt worden, darunter nicht nur Präsident Miloevic und die serbische Führung sondern serbische Führer der Republika Serbska, des abgesonderten serbischen Teils von Bosnien.
Da nun die Anklage gegen den ehemaligen Präsidenten von Jugoslawien ihrem Ende zugeht, ist sein Gesundheitszustand schwer beeinträchtigt und lebensbedrohlich geworden. Die Verhandlungen wurden letzte Woche unterbrochen, weil er zu krank war, um teilzunehmen, aber das Tribunal verfügte zusätzlich weitere beschwerliche Verhandlungsstunden für die beiden letzten Wochen der Beweiserhebung der Anklage. Gestern erst war das Tribunal gezwungen, die Verhandlungen auf halbe Tage zu reduzieren, und zwar aufgrund eines medizinischen Berichts, den Ärzte, die vom Tribunal bestellten worden waren, über Präsident Miloevic erstattet hatten. Präsident Miloevic ist Monate lang, während er die Kandidatenliste der Sozialistischen Partei Serbiens bei den Parlamentswahlen anführte, und als seine Partei sich der neuen Koalition anschloss, die letzte Woche den neuen Parlamentspräsidenten wählte, in totaler Isolierung gehalten worden. Anfang der Woche verlängerte das Tribunal seine Isolation um einen weiteren Monat wegen politischer Ereignisse in Serbien.
Präsident Miloevic, der sich, aus der Haft heraus und bei bedrohlichem Gesundheitszustand, selbst vor Gericht verteidigt, wurden weniger als drei Monate Zeit gegeben, um nach mehr als zwei Jahren Beweiserhebung seine Verteidigung vorzubereiten, bis im Mai der Vortrag der Verteidigung beginnen soll. Diese jüngste Handlungsweise des Tribunals ist bezeichnend für die konsequent grobe Unfairness der Verhandlungen während der Jahre der Inhaftierung von Präsident Miloevic und der Beweiserhebung der Anklage.
Um die Verteidigung angemessen vorzubereiten, ist es erforderlich die Zehntausende von Dokumenten zu erfassen und durchzusehen, Hunderte von potentiellen Zeugen zu finden und zu befragen und das Beweismaterial in einer zusammenhängenden und wirkungsvollen Darstellung zusammen zu fassen.
Die Vereinten Nationen müssen im Interesse der einfachen Gerechtigkeit, und um frühere Ungerechtigkeiten zu korrigieren, die Legalität und Fairness eines von ihnen geschaffenen Gerichts zu bewerten und die Glaubwürdigkeit der Vereinten Nationen in den Augen der Völker zu erhalten folgendes veranlassen:
Verkündigung eines Moratoriums für alle Verfahren vor allen UN ad hoc-Tribunalen für eine Frist von mindestens sechs Monaten und für weitere Fristen, sofern diese sich für die Vereinten Nationen als notwendig erweisen, um
Hochachtungsvoll Gleichlautende Breife wurden gesandt an:
Übersetzung aus dem Englischen: Klaus von Raussendorff Quelle
Ramsey Clark
http://www.icdsm.org/more/rclarkUN1.htm