Richter oder Henker?
Das Leben von Slobodan Milosevic ist in Gefahr

In den letzten Wochen hat sich der Gesundheitszustand des ehemaligen Präsidenten der Republik Jugoslawien, Slobodan Milosevic, dramatisch verschlechtert. In diesem Zusammenhang hat eine Gruppe serbischer Ärzte, darunter vier Mitglieder der Akademie der medizinischen Wissenschaften, in Belgrad eine Pressekonferenz durchgeführt. Die Mediziner brachten ihre Besorgnis über die Handlungsweise des Haager "Tribunals" zum Ausdruck, durch die nicht nur die Gesundheit, sondern auch das Leben des politischen Gefangenen bedroht wird, und gaben folgende Erklärung ab:

"Mit tiefer Sorge verfolgen wir die Mitteilungen über die Verschlechterung des Gesundheitszustands des ehemaligen Präsidenten Serbiens und Jugoslawiens, Slobodan Milosevic. Die Ergebnisse seiner Untersuchungen durch eine internationale Ärztegruppe am 4. November 2005 verstärken unsere Besorgnis. Diese Untersuchungen zeigen völlig eindeutig, dass Slobodan Milosevic eine Unterbrechung der Gerichtsverhandlungen für zusätzliche Untersuchungen und Behandlungen außerhalb von Gefängnisbedingungen benötigt.

Als Ärzte und Humanisten hat uns erschreckt, dass die Richter es ablehnten, sich ernsthaft mit den Befunden der medizinischen Kommission und den Empfehlungen unserer Kollegen zu befassen. Das Gericht zog es vor, den Prozess fortzusetzen, was dazu führte, dass Slobodan Milosevic kurz davor war, im Gerichtssaal das Bewusstsein zu verlieren.

Ein solches Verhalten des Gerichts ist unannehmbar."

Die Mediziner fordern:

"1. Den Prozess gegen Slobodan Milosevic für sechs Wochen auszusetzen, wie dies von der aus französischen, russischen und serbischen Medizinern bestehenden internationalen Ärztegruppe empfohlen wurde.

2. Während der Unterbrechung des Prozesses eine Behandlung und weitere Untersuchungen durchzuführen.

3. Die Ärzte, die möglicherweise vom Gericht benannt werden, sollten zumindest nicht weniger qualifiziert sein als die Teilnehmer der internationalen Ärztegruppe. Zu ihnen sollten auch Spezialisten gehören, die Milosevic selbst vorschlägt.

4. Die Heilbehandlung Slobodan Milosevics muss den internationalen Normen auf dem Gebiet der Menschen- und Bürgerrechte entsprechen, einschließlich der Bestimmungen der Lissabonner Deklaration hinsichtlich der freien Wahl der Ärzte und medizinischen Einrichtungen durch den Patienten.

Die Einstellung des Prozesses in einem Augenblick zu verweigern, da die Gesundheit und das Leben von Slobodan Milosevic in Gefahr sind, ist ein Beispiel der Verletzung seiner grundlegenden Menschenrechte, das nicht zugelassen werden darf. Die ständige Drohung, im Falle der Erkrankung einen vom Gericht aufgezwungenen Verteidiger einzusetzen, den Milosevic nicht anerkennt, stellt den Versuch dar, ihm die Zustimmung abzupressen, zu Lasten seiner Gesundheit am Prozess teilzunehmen ..."

Noch schärfer hat sich das Medizinische akademische Forum geäußert, das 120 führende Ärzte Serbiens, Montenegros und einer Reihe anderer Länder repräsentiert. Die renommierten Mediziner betonten, dass man in dem Rachefeldzug gegen den erkrankten Milosevic "eine Form der Hinrichtung sehen kann". An die Richter gewandt forderten sie, "Milosevic unverzüglich medizinische Hilfe zur Verfügung zu stellen" und erklärten, "wenn Sie das nicht tun werden Sie zu Beteiligten einer vorsätzlichen Ermordung."

Es besteht die Gefahr, dass das Haager Tribunal, nachdem es nicht gelungen ist, den ehemaligen jugoslawischen Präsidenten moralisch und politisch zu brechen, nunmehr zu seiner physischen Beseitigung übergehen könnte. Die Staatsanwälte des "Tribunals" haben in der Anklagephase des Prozesses eine vollständige Niederlage erlitten.

Milosevic schlug einen Zeugen der Anklage nach dem anderen aus dem Felde, indem er sie öffentlich der Lüge überführte. Aus Angst davor, dass er in der Verteidigungsphase des Prozesses seine Position noch mehr festigt, zwang das Gericht ihm trotz seiner scharfen Einwände einen Verteidiger auf, der an seine Stelle die Verteidigung ausüben soll. Jetzt will man Milosevic offenbar in einen Zustand bringen, der es ihm unmöglich macht, an den Verhandlungen teilzunehmen. Dann tritt der vom Gericht ernannte Verteidiger in Aktion.

Das Tribunal ist nicht einfach eine Institution. Es sind Menschen, die aufgerufen sind, Recht zu sprechen, in Wirklichkeit jedoch - vorgeblich im Namen der Weltgemeinschaft - nicht einfach nur Gesetzlosigkeit praktizieren, sondern das Verfahren unverhohlen mit dem Ziel der physischen Vernichtung des Angeklagten führen. Nennen wir die Namen derjenigen, die die Verantwortung für dieses barbarische Handeln tragen. Es sind die Richter Patrick Robinson (Jamaika), Jan Bonomi (Großbritannien), O-Gon Kwon (Südkorea), die Hauptanklägerin Carla del Ponte (Schweiz) und der Staatsanwalt Geoffrey Nice (Großbritannien).

Das ist also der "unabhängige internationale Gerichtshof", dem zwei Akteure angehören, die Bürger eines Staates sind, der an der Aggression gegen Jugoslawien beteiligt war. Hinzu kommt der Gerichtspräsident Robinson aus einem eng mit Großbritannien verbundenem Land. Wenn man noch den aufgezwungenen Verteidiger dazu nimmt, der ebenfalls Bürger Großbritanniens ist, so kommt heraus, dass Bürger eines Aggressorstaates im Namen der Weltgemeinschaft über den Präsidenten des Landes zu Gericht sitzen, das Opfer der Aggression wurde. Anders als eine Verhöhnung der internationalen Rechtsprechung und des gesunden Menschenverstandes kann man das wohl nicht bezeichnen.

Was mit Milosevic passiert, ist keine Rechtsprechung. Das ist ein Akt des Terrorismus, die Ergreifung einer Geisel unter dem Nebelvorhang "internationale Rechtsprechung". Und die Geiselnehmer, die ihr Opfer nicht gefügig machen konnten, wollen es nun beseitigen, damit keine Spuren ihres Verbrechens zurückbleiben. Damit werden die Richter zu Henkern - wie die Mitglieder des Medizinischen akademischen Forums zu Recht bemerkten. Darin besteht das eigentliche Wesen der Ereignisse, die gegenwärtig in Den Haag vor sich gehen.

Wjatscheslaw Tetekin

unsere zeit - Zeitung der DKP vom 9. Dezember 2005
(Aus "Sowjetskaja Rossija" vom 24. November. Übers. und red. Bearbeitung: Willi Gerns)


zurück  zurück