»Recht wird auf den Kopf gestellt«

Über das UN-Tribunal in Den Haag und die notwendige Solidarität mit dem jugoslawischen Expräsidenten Slobodan Milosevic. Gespräch mit Tiphaine Dickson

Die kanadische Rechtsanwältin Tiphaine Dickson ist Sprecherin des Rechtskomitees des Internationalen Komitees zur Verteidigung von Slobodan Milosevic (ICDSM). Sie wirkte als führende Verteidigerin im ersten Völkermordprozeß der UNO vor dem Ruanda-Tribunal (ICTR) in Arusha/Tansania.

F: Sie sind Sprecherin der Anwälte des Internationalen Komitees zur Verteidigung von Slobodan Milosevic (ICDSM). Das hat Ihnen sicherlich schon einige Kritik eingebracht. Was hat Sie dazu bewogen, sich für den ehemaligen jugoslawischen Präsidenten einzusetzen?

Es gibt viele Gründe, Präsident Milosevic zu unterstützen. Für mich persönlich steht dabei an oberster Stelle, daß er noch während des Bombenkrieges gegen den souveränen Staat Jugoslawien angeklagt wurde wegen Verbrechen gegen die Menschheit, die angeblich im Kosovo begangen wurden. Die Ankläger verfolgten nach eigenen Angaben damit die Absicht, Milosevic vor der »internationalen Staatengemeinschaft« als Verhandlungspartner in Friedensgesprächen zu diskreditieren. In den Nürnberger Prozessen galt der Angriffskrieg als das schwerste aller Verbrechen, also genau jenes, das die NATO gerade mit der Bombardierung Jugoslawiens beging. Der ganze Begriff von Recht wurde instrumentalisiert und auf den Kopf gestellt. Dem rechtmäßig gewählten Staatschef Jugoslawiens wurden Verbrechen vorgeworfen, während das Land und seine Bevölkerung Opfer des schwersten Völkerrechtsbruches wurden.

F: Müßten also die Verantwortlichen aus den NATO-Staaten rechtlich verfolgt werden?

Klar ist doch, daß die NATO ungestraft das schlimmste aller Verbrechen begangen hat. Und sie hat das grundlegende Gebot der UN-Charta verletzt, wonach in den internationalen Beziehungen keine Gewalt einzusetzen ist. Der Angriffskrieg wurde trivialisiert und das jugoslawische Volk, besonders auf dem Gebiet des Kosovo, dem Bombenhagel ausgesetzt. Dabei wurden, nebenbei bemerkt, Waffen eingesetzt, die international geächtet werden, etwa Munition mit abgereichertem Uran. Jede Behauptung, daß hier Recht geschehen ist, halte ich für lächerlich. Es wurde ein historisches Unrecht begangen, und Slobodan Milosevic verdient die Unterstützung eines jeden, der die Prinzipien des Völkerrechts verteidigt, die seit der Ahndung der Naziverbrechen gelten.

F: Milosevic bestreitet die Legalität des Den Haager Tribunals. Teilen Sie diese Auffassung?

Völlig. Das Jugoslawientribunal wurde aufgrund einer Resolution des UN-Sicherheitsrats geschaffen, obwohl die Charta der Vereinten Nationen diesem keine Kompetenz zur Gründung von Gerichten überträgt. Im besten Fall kann man es als paradox bezeichnen, daß die USA den Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) ablehnen, der rechtmäßig errichtet wurde, während Vertreter der USA zu den Hauptakteuren bei der Gründung des ad-hoc Jugoslawien-Tribunals zählen, dessen Legalität mehr als fragwürdig ist.

F: Würde Sie Milosevic als politischen Gefangenen bezeichnen?

Wenn die Natur eines Prozesses politisch ist oder er politisiert wird und der Angeklagte inhaftiert ist, kann er natürlich als politischer Gefangener bezeichnet werden. Die Anklage gegen Milosevic diente vom ersten Tag an politischen Zwecken.

Diejenigen, die Milosevic als »Inbegriff des Bösen« betrachten, sollten sich einmal folgende Fragen stellen: Wie können wir den mühevoll zusammengeschusterten Darstellungen der bürgerlichen Medien, die die Interessen des Imperialismus vertreten, einfach folgen? Warum sollten wir imperialistische Abenteuer befürworten und Aggressionen durch unsere Unterstützung einen Segen erteilen? Ist unsere Unterstützung für die Position der USA gegenüber Jugoslawien Zufall?

Slobodan Milosevic nutzt die Verhandlungen in Den Haag, um die Tatsachen darzustellen und der Wahrheit ein Stückchen näher zu kommen, so unschön diese für viele sein mag. In diesem Sinne vermittelt seine Verteidigung Hoffnung auf Gerechtigkeit.

Interview: Anna Gutenberg

junge Welt vom 04.03.2006


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