Das Video der »Skorpione«

Ein Filmdokument über ein Massaker an wehrlosen Gefangenen erschüttert Serbien. Die Behauptung, die Einheit habe der Regierung in Belgrad unterstanden, ist unbewiesen

Am Mittwoch letzter Woche zeigte der Anklagevertreter den Filmausschnitt im Haager Prozeß gegen den früheren jugoslawischen Präsidenten Slobodan Milosevic, noch am gleichen Tag strahlten ihn serbische Fernsehstationen aus – und in der Zwischenzeit ist er zum Topthema der Westmedien avanciert. Zu sehen ist ein grausames Massaker, im Sommer 1995 von Angehörigen einer serbischen Sondereinheit mit dem Namen »Skorpione« begangen. Sechs bosnisch-muslimische Soldaten – vermutlich bei der Einnahme von Srebrenica am 11. Juli 1995 in Gefangenschaft geraten – liegen gefesselt und mit dem Gesicht nach unten auf einem Lastwagen. Eine Wache kickt einem gegen den Kopf. Später werden die armen Teufel von der Pritsche geholt und, einer nach dem anderen, von hinten in den Kopf geschossen. Nachdem die ersten vier tot sind, nimmt man den letzten beiden die Fesseln ab und befiehlt ihnen, die Leichen fortzuschleppen. Schließlich werden auch sie exekutiert. Serbiens Premier Vojislav Kostunica sprach von einem »brutalen, gnadenlosen und beschämenden Verbrechen«, und die Tageszeitung Politika kommentierte: »Kein Produkt aus Hollywood, sondern leider der nackte, brutale und bestialische Mord, den einige Serben an Leuten aus Srebrenica begangen haben, weil sie keine Serben waren.« Umgehend wurden vier Angehörige der mittlerweile aufgelösten Eliteeinheit verhaftet, darunter ihr Kommandeur Slobodan Medic.

Smoking guns

So verabscheuungswürdig diese Taten und diese Täter sind, so wenig sollten sie für politische Propaganda benutzt werden. Ausdruck dieser Propaganda ist etwa der Kommentar des Londoner Observer vom Sonntag: »Das Band ist das rauchende Gewehr (the smoking gun), denn es ist der letzte unbestreitbare Beweis für die Verwicklung Serbiens in die Srebrenica-Massaker, bei denen mehr als 7 500 bosnische Männer und Jungen ermordet wurden.«

Der Film beweist den scheußlichen Mord an sechs Menschen – nicht an über 7 500. Würden die westlichen Angaben stimmen, müßte es eigentlich auch darüber Bilddokumente geben, denn das fragliche Gebiet rund um Srebrenica wurde damals rund um die Uhr von US-Satelliten überwacht. Tatsächlich zeigte die damalige US-Botschafterin bei den Vereinten Nationen, Madeleine Albright, kurz nach der Einnahme der UN-Schutzzone Aufnahmen, auf denen zusammengetriebene Gefangene und später planiertes Erdreich zu sehen waren. Seltsamerweise gibt es aber keine Satellitenaufnahmen von den Massenerschießungen, obwohl diese, sofern sie stattgefunden haben, stundenlang gedauert haben müssen.

Milosevic und die Skorpione

Für Milosevic ist entscheidend, ob er die These entkräften kann, die »Skorpione« seien Teil der serbischen Sonderpolizei (MUP) gewesen oder hätten immerhin Befehle aus Belgrad bekommen. Die Uniformen auf dem Video sprechen nicht unbedingt dafür, sie sind bunt zusammengewürfelt, manche haben serbische Hoheitszeichen, andere nicht. Andererseits waren einige der Killer auf dem Video auch im Kosovo 1999 wieder aktiv – als Präsident führte Milosevic damals das Kommando. Nun verweist seine Verteidigung darauf, daß die »Skorpione« 1999 nicht als geschlossene Einheit zum Einsatz kamen, sondern sich lediglich einzelne ihrer Veteranen bei Kriegsbeginn wieder hatten aktivieren lassen. Von ihren Verbrechen in Bosnien habe man nichts gewußt.

Die stärkste Unterstützung für Milosevic findet sich in der Aussage von Milan Milanovic. Der war Vizeverteidigungsminister der Krajina-Republik gewesen, die die serbische Minderheit in Kroatien zwischen 1991 und 1995 gebildet hatte. In dieser Funktion habe er selbst die Sondereinheit der »Skorpione« im Mai 1992 aufgestellt, und diese hätten später auch in Bosnien dem Krajina-Kommando unterstanden. Erst 1994 seien sie schließlich der MUP-Polizei eingegliedert worden, aber nicht der jugoslawisch-serbischen mit Hauptquartier in Belgrad, sondern der bosnisch-serbischen mit Hauptquartier in Pale. Stimmt die Aussage, gibt es keine Verbindung zwischen Milosevic und den »Skorpionen«. Und warum sollte sie nicht stimmen: Milanovic machte die Angaben am 14. Oktober 2003 vor dem Haager Gericht – und zwar als Zeuge der Anklage. Hätte es mehr Belastendes gegeben, hätte er es wohl gesagt.

In der kommenden Woche schließlich wird der Chef der niederländischen UN-Truppen, General Thom Karremans, in Den Haag aussagen. Dessen Report über antiserbische Übergriffe rund um Srebrenica dürfte nicht das mediale Interesse finden wie der jetzt präsentierte Horrorfilm.

Jürgen Elsässer

junge Welt vom 08.06.2005


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