Versuchter Ausschluß

Prozeß gegen jugoslawischen Expräsidenten Milosevic sollte ohne den Angeklagten fortgesetzt werden. Zeuge boykottierte Vernehmung

Erstmals versuchten Richter und Ankläger im Verfahren gegen Slobodan Milosevic vor dem Den Haager Jugoslawientribunal (ICTY) am Dienstag, den Prozeß ohne den Angeklagten zu führen. Wegen erhöhtem Blutdruck hatte man dem jugoslawischen Expräsidenten die Teilnahme untersagt. Der derzeitige Zeuge, Kosta Bulatovic, ein Serbe aus dem Kosovo, weigerte sich, seine Aussage ohne den Angeklagten fortzusetzen. Trotzdem muß er am heutigen Mittwoch erneut in den Zeugenstand.

Der Versuch, Milosevic aus seinem eigenen Prozeß zu verdrängen, noch dazu vor dem Hintergrund, daß sich dieser wegen Nichtanerkennung des ICTY selbst verteidigt, geht auf ein Urteil der Berufungskammer zurück. Diese entschied nach einer Anhörung im Oktober 2004 über eine Anordnung der Zwangsverteidiger Steven Kay und Gillian Higgins, die Milosevic auferlegt wurde. Die Vorgabe besagte, daß sich Milosevic auch künftig wieder weitestgehend selbst verteidigen dürfe, aber nur, soweit seine Prozeßteilnahme sichergestellt ist. Andernfalls, so entschied die Berufungskammer, können nicht nur seine Rechte auf Selbstverteidigung beschnitten werden, sondern der Prozeß dürfe unter der Leitung der Zwangsverteidiger sogar in Abwesenheit des Angeklagten geführt werden.

Das Urteil der Berufungskammer hatte damit die vollständige Kontrolle der Verteidigung durch die britischen Anwälte Kay und Higgins verhindert, nachdem sich diese einem historisch wahrscheinlich einmaligem Zeugenboykott ausgesetzt sahen, der die Fortsetzung des Prozesses in Frage stellte. Handelt es sich nun um einen neuen Anlauf, die Zeugen dazu zu bringen, mit den Zwangsverteidigern zu kooperieren? Klar scheint, daß es nach wie vor darum geht, Milosevic mundtot zu machen und die für die Anklage und westliche Regierungen belastenden Aussagen der Verteidigungszeugen »auf Linie« zu bringen.

Anna Gutenberg, Den Haag

junge Welt vom 20.04.2005


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