Tribunal-Richter zurückgetreten: Wird Milosevic-Prozeß auf Eis gelegt?

jW sprach mit Tiphaine Dickson, kanadische Anwältin im Rechtskomitee des Internationalen Komitees zur Verteidigung von Slobodan Milosevic (ICDSM)

Die kanadische Anwältin war leitende Verteidigerin in einem der ersten Völkermordprozesse vor dem Ruanda-Tribunal in Tansania.

F: Das Tribunal für Kriegsverbrechen im ehemaligen Jugoslawien (ICTY) in Den Haag hat am Sonntag den Rücktritt des leitenden Richters im Milosevic-Prozeß, Richard May, bekanntgegeben. Offiziell wird auf gesundheitliche Gründe verwiesen. Wie bewerten Sie diesen Vorgang?

Das ist eine spektakuläre Entwicklung. Der Rücktritt zeigt, daß dieser Mammutprozeß angesichts des riesigen Umfangs an Protokollunterlagen und der Unmenge an Zeugen nicht adäquat geführt werden kann, schon gar nicht von einem gesundheitlich angeschlagenen Menschen. Bedauerlicherweise wird Slobodan Milosevic, dessen Krankheit ihn ähnlich beeinträchtigt, nicht mit der gleichen Rücksicht begegnet wie Richard May, dem sogleich Mitleid und Sorge zuteil wurden. Milosevic kann nicht einfach vom Prozeß zurücktreten – obwohl er gegen seine lebensbedrohliche Krankheit ankämpfen muß, ohne eine vorübergehende Haftentlassung oder ausreichende fachärztliche Behandlung gewährt zu bekommen.

F: In der internationalen Presse ist neuerdings zu lesen, man könne Milosevic Völkermord nicht nachweisen. Wird die Öffentlichkeit jetzt darauf vorbereitet, daß sich zahlreiche Vorwürfe gegen Milosevic als unhaltbar erweisen werden?

Die Einschätzung der Presse stimmt insofern, als die bisher vorgebrachten »Beweise« auf Hörensagen, Spekulationen, persönlichen Meinungen und Irrelevanzen beruhen. Die Chefanklägerin, Carla del Ponte, konnte keinen einzigen schlüssigen Beweis präsentieren, wie es die Strafjustiz verlangt. Es ist klar, daß zahlreiche Anklagepunkte fallengelassen werden müssen.

F: Einige Kommentatoren stellen inzwischen sogar in Frage, daß Milosevic Kriegsverbrechen in Bosnien und Kroatien nachzuweisen seien. Deutet sich darin vielleicht das Kalkül des Westens an, die Anklage demnächst auf den Kosovo-Komplex zu beschränken?

Selbst wenn die Bosnien- und Kroatienanklage fallengelassen würden, könnte Milosevic noch immer dieselbe Verteidigungsstrategie verfolgen, wie er sie in seiner Eröffnungsrede dargelegt hat. Kosovo war nur der Vorwand des Westens für einen grausamen Bombenkrieg, mit dem internationales Recht gebrochen wurde. Diese Aggression besiegelte das Auseinanderbrechen Jugoslawiens. Es ist sehr wahrscheinlich, daß Milosevic wie angekündigt aufzeigen wird, daß es nur einen Krieg im ehemaligen Jugoslawien gab: nämlich den gegen Jugoslawien.

F: Was bedeutet der Rücktritt Mays für den Fortgang des Verfahrens?

Die Verfahrensregeln besagen eigentlich, daß ein neuer Richter nicht ohne Zustimmung des Angeklagten berufen werden kann. Doch im »Dienste der Gerechtigkeit« dürfen die Richter gegen die Vorbehalte des Angeklagten handeln. Das Recht auf Einspruch des Angeklagten ist also nicht mehr als eine Farce. Jeder neu berufene Richter muß bestätigen, daß er mit dem gesamten Fall vertraut ist, also mit über 33 000 Seiten von Mitschriften, ganz zu schweigen von Videokassetten, Karten und einer großen Zahl anderer Beweisstücke. Es wäre zudem notwendig, daß ein neuer Richter alle Videoaufzeichnungen der Verhandlungen anschaut, denn keine Mitschrift kann vermitteln, was die Körpersprache von Zeugen aussagt.

F: Könnte der Prozeß also erst einmal auf Eis gelegt werden?

Unter strikter Anlegung des angloamerikanischen Rechtssystems müßte der Prozeß eigentlich noch einmal komplett von vorne aufgerollt werden. Was diesen Fall betrifft, besteht aber die Gefahr, daß die Richter angesichts des enormen politischen Drucks die Verfahrensregeln so ändern, daß der Prozeß ohne Hindernisse fortgeführt werden kann. Eine solche Entwicklung wäre ein schlimmer Präzedenzfall für die Zukunft des internationalen Rechts.

Interview: Cathrin Schütz

junge Welt vom 25. Februar 2004


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