Die ausgeblendete Realität
Milosevic in Den Haag: Die medialen Ankläger schweigen
Carla del Ponte, Chefanklägerin des Den Haager Tribunals, will praktisch die gesamte serbische und jugoslawische Führungsschicht aus der Milosevic-Ära der NATO-Justiz zuführen. Nicht nur das. Sie fordert auch die Auslieferung des gegenwärtigen serbischen Präsidenten Milan Milutinovic. Dessen Amtszeit endet im Dezember. Bis dahin genießt er Immunität. Die Immunität eines Präsidenten vor Ablauf seiner Amtszeit kann nur durch einen Staatsstreich aufgehoben werden. Was die Signora aus dem Tessin begehrt, ist nicht weniger als die Aufhebung der staatlichen Ordnung. Ein Gerichtshof aber, der die Organe eines Staates zu verfassungswidrigen Handlungen anstiftet, macht sich der kriminellen Aufwiegelung schuldig.
Bereits die Gründung des Haager Tribunals erfolgte unter Verletzung des Völkerrechtes. Denn sie folgte einem Beschluß des UN-Sicherheitsrates und nicht, wie erforderlich, einem Beschluß der UNO-Vollversammlung. Als UN-Tribunal zu firmieren ist die reine Amtsanmaßung. Den Haag verkörpert keine internationale Gerichtsbarkeit, sondern Selbstjustiz. Die NATO-Interventionsmächte schaffen ihr eigenes Rechtssystem. Milosevic und seine Umgebung sind des Widerstandes gegen die imperialistische Staatsgewalt schuldig zu sprechen.
Um Jugoslawien zur Kapitulation zu zwingen und seinen Widerstand nachträglich zu delegitimieren, bedurfte es eines globalen Verfassungsputsches. Die Jugoslawien verordnete »Zusammenarbeit« mit Den Haag hatte die Außerkraftsetzung seiner rechtsstaatlichen Bestimmungen zur zwingenden Voraussetzung. Die Aufhebung Jugoslawiens als souveräner Rechtsstaat bzw. in seiner rechtsstaatlichen Souveränität durch die herrschenden »Rechtsstaaten« bedeutet das Ende der internationalen Rechtsordnung. Die bürgerlich-demokratischen Normen in den internationalen Beziehungen sind offenen Gewaltverhältnissen gewichen.
Daß die Korrumpierung internationalen Rechts weitgehend unbemerkt über die Weltbühne gehen konnte, ist allein aus der Korrumpierung der Medien zu erklären. Den Haag verkörpert die perfekte Einheit der vier Gewalten: Legislative, Exekutive, Justiz und Medien. Die Meinungsproduzenten, die am inbrünstigsten die Gewaltenteilung propagieren, haben sie endgültig zur Farce gemacht. Die am eindringlichsten vor dem Totalitarismus warnen, haben den totalitären Teufelskreis geschlossen. Kein totalitäres System hat es bisher vermocht, die öffentliche Meinung so zu vereinnahmen wie die bunte Meinungsvielfalt bei der Vorverurteilung des jugoslawischen Ex-Präsidenten. Nicht gleichgeschaltete, sondern gleichschaltende Medien sind die Grundvoraussetzung des Neototalitarismus.
Georgi Dimitroff konnte in Leipzig gegenüber einem NS-Gericht bestehen - kraft seines überragenden Intellekts und der Solidarität der internationalen Antinaziöffentlichkeit. Slobodan Milosevic steht in Den Haag trotz seines souveränen Auftritts, der ihn, ebenso wie Dimitroff in Leipzig, vom Angeklagten zum Ankläger werden ließ, auf verlorenem Posten. Je überzeugender er die Farce von Den Haag aufdeckt, desto mehr gereicht ihm das zum Nachteil. Auf den Krieg der NATO gegen Jugoslawien Bezug nehmend, sagte Milosevic, es habe schon viele verbrecherische Kriege gegeben, doch noch nie hätten die Medien eine solch kriegsverbrecherische Rolle wie in diesem Krieg gespielt. Das ließen sich die Medien nicht bieten. Sie drehten die Mikrophone ab.
Einem verstockten oder winselnden oder sich auf besondere Umstände herausredenden Milosevic wäre ein breites internationales Forum sicher gewesen. Ein in seiner Erniedrigung aufrecht gebliebener Milosevic, der nicht die eigene Haut, sondern die Sache seines Lebens verteidigt, befand sich außerhalb des Vorstellungsvermögens der medialen Ankläger.
Werner Pirker Kommentar in junge Welt vom 4. Mai 2002