Panther, Kaimane, Skorpione

Das Srebrenica-Video und der Milosevic-Prozess: Vom "smoking gun" in der Beweisführung gegen den Angeklagten war die Rede

Es geschieht am 1. Juni mitten im Kreuzverhör von Obrad Stevanovic, eines Zeugen der Verteidigung, den der Ankläger Geoffrey Nice zuvor mehrmals einen Lügner genannt hat. Als General der serbischen Polizei und ehemaliger Vizeminister des Inneren präsentiert der Zeuge Stevanovic Dokumente, die beweisen sollen, dass die serbische Polizei im Kosovo in Übereinstimmung mit dem Gesetz gegen die UÇK vorgegangen sei. Auch dementiert er hartnäckig, dass serbische Polizeieinheiten während des Bürgerkrieges in der Krajina oder in Bosnien-Herzegowina im Sinne der Anklage eingesetzt worden seien.

Plötzlich unterbricht Mister Nice die Befragung und lässt einige Videofragmente vorführen, mit denen er beweisen will: Spezialeinheiten der serbischen Polizei waren im Sommer 1995 an den Erschießungen in Srebrenica beteiligt. Das Video zeigt einen orthodoxen Priester, der kahlgeschorene Soldaten segnet, die danach gefangene Muslime erschießen. Nice erklärt dazu, es handele sich um - "Skorpione" genannte - serbische Polizeieinheiten, die seien an Ort und Stelle gewesen, als der Mord an über 7.000 Moslems geschah. Der Zeuge ist erschüttert, weist aber vehement den Vorwurf zurück, reguläre Verbände der Polizei Serbiens seien an den Exekutionen beteiligt gewesen.

Soll das Band als neuer Beweis gegen Milosevic dienen, dann hat der Ankläger zumindest grob gegen die Prozessordnung verstoßen, denn derzeit läuft nicht seine, sondern die Beweisaufnahme der Verteidigung. Außerdem sind im Kreuzverhör nur Fragen zugelassen, die im Hauptverhör behandelt wurden - und Srebrenica zählte nicht dazu. Freilich kann der Ankläger beantragen, ihm erst jetzt zugängliche Beweise präsentieren zu dürfen. Allerdings muss er dann neben dem Gericht auch dem Angeklagten alles vorlegen, was die Authentizität dieser Beweise überprüfbar macht. Daher protestiert der Pflichtverteidiger Steven Kay lautstark gegen den "Sensationalismus" des Anklägers, und Richter Robinson entschließt sich zu einer milden Rüge. Geoffrey Nice räumt eine gewisse Regelverletzung ein, fügt aber hinzu, er beabsichtige noch nicht, die Aufnahme dieses Videos als Beweisstück zu beantragen, und setzt das Kreuzverhör mit anderen Fragen fort.

Der Ankläger erhält eine Woche Zeit

Schon am gleichen Abend flackern die Videofragmente zur prime time in Europa über alle Bildschirme, und am nächsten Morgen sind sie der Aufmacher vieler Zeitungen. Ein Jahr lang schwiegen sich die Medien über den "Jahrhundertprozess" in Den Haag aus, jetzt überstürzen sie sich mit Berichten über den erbrachten Beweis, dass "die Serben" und Milosevic persönlich am Völkermord in Srebrenica beteiligt waren. Vom "smoking gun" in der Beweisführung gegen den Angeklagten ist die Rede - Fazit: Als Präsident habe Slobodan Milosevic persönlich die Mörder von Srebrenica befehligt.

In den folgenden Tagen wird ausführlich berichtet, wie ganz Serbien unter Schock stehe, nachdem man in Belgrad besagtes Video integral gesendet habe. Nun seien endlich "die Serben gnadenlos mit ihren Verbrechen konfrontiert". Freilich sind im postjugoslawischen Raum seit Jahren Dutzende ähnlicher Videoaufnahmen von fragwürdiger Authentizität im Umlauf, die jeweils die Gräueltaten "der Anderen" beweisen.

Am 8. Juni bekommt Milosevic das Wort zum zusätzlichen Verhör seines Zeugen, bei dem er sich auf die Fragen beschränken muss, die der Ankläger in seinem Kreuzverhör aufgegriffen hat. Er führt nun seinerseits Videofragmente vor, die das Nice-Band als stümperhaft zusammengeflicktes Elaborat darstellen. Eine vom Ankläger ausgelassene Stelle widerlegt klar die Behauptung, dass es sich seinerzeit bei den "Skorpionen" um ein Spezialkommando der serbischen Polizei handelte. Für diese Gegendarstellung entfällt freilich die mediale Orchestrierung.

Er werde die Authentizität des Videos schon noch belegen, beteuert daraufhin der Ankläger. Er werde einen Zeugen bringen, der die bewusste Sequenz persönlich aufgenommen habe und ihre Echtheit bestätigen werde. Es gehe dabei jedoch um eine Person, deren Identität streng geheim bleiben müsse. Mister Nice rede im Futur, während das Video seit einer Woche in allen Medien als "Film über Srebrenica" präsentiert werde, protestiert der Angeklagte energisch. So bleibt dem Gericht nur eine pragmatische Entscheidung: Ankläger Nice erhält eine Woche Zeit, um seinen Authentizitätsbeweis vorzulegen.

Am 15. Juni ist es so weit. Aber nach Eröffnung der Sitzung stellt sich heraus, es gibt lediglich einen anonymen Zeugen, der die Authentizität der Videoaufnahme mit der Aussage bestätigt hat, er persönlich habe Kopien von der Originalkassette gezogen. Der Angeklagte ist belustigt über diesen "Beweis" und hört vom Ankläger die erstaunliche Erklärung: Es gehe ihm gar nicht um die Authentizität des Videomaterials und die Wahrhaftigkeit seines Inhalts. Er habe die Fragmente lediglich vorgeführt, um den Zeugen Obrad Stevanovic, den ehemaligen stellvertretenden Innenminister, die darin auftretenden Personen identifizieren zu lassen.

Daraufhin beansprucht der Angeklagte das gleiche Recht wie Geoffrey Nice und möchte nun seinerseits Ausschnitte aus einem Dokumentarfilm zu Srebrenica zeigen. Warum? In welchem Zusammenhang? fragt Richter Robinson. Milosevic erklärt, in diesen Sequenzen äußerten sich westliche Politiker zu geheimdienstlichen Verstrickungen in den Massenmord von Srebrenica. Dazu wolle er dem Zeugen Obrad Stevanovic seinerseits einige Fragen stellen. Der Angeklagte möge das tun, aber dabei nicht die Prozessordnung vergessen, ermahnt ihn der Richter.

Richter Robinson sperrt das Mikrofon

Und so beginnt der Angeklagte seine Befragung. Könne General Stevanovic bestätigen, dass die serbische Polizei schon 1996 Draza Erdemovic, den Haager Kronzeugen zu Srebrenica, festgenommen und an das Tribunal ausgeliefert habe? Das stimmt, sagt der Zeuge. Wisse er, fragt Milosevic weiter, dass Erdemovic für seine 120 zugegebenen Morde in Den Haag mit fünf Jahren Haft davon kam, während er in Serbien für dieses Verbrechen wahrscheinlich zum Tode verurteilt worden wäre? Auch das bejaht Stevanovic. Habe man nicht, so die nächste Frage, im Februar 2000 in Belgrad mehrere Personen festgenommen, die als Mittäter von Erdemovic galten? Besaßen einige davon nicht einen französischen Pass? Und seien sie nicht alle nach dem Sturz des Präsidenten Milosevic im Oktober 2000 sofort auf freien Fuß gesetzt worden?

Der Angeklagte missbrauche die Prozessordnung, protestiert der Ankläger. Das ist unwürdig, empört sich Richter Bonomy. "Mister Milosevic, Sie missbrauchen schamlos diesen Prozess", erklärt ein empörter Richter Robinson, sperrt ihm das Mikrofon und schickt den Zeugen nach Hause. Ende der Befragung. So weiß man jedenfalls, wer Herr im Hause ist.

Was nun die "Skorpione" betrifft, so ist ihre Geschichte schnell erzählt. Schon im Oktober 2003 hatte dazu Milan Milanovic, Vizeverteidigungsminister der untergegangenen serbischen Krajina-Republik, als Zeuge der Anklage vor den Haager Richtern erklärt, 1992 diese paramilitärische Einheit persönlich aus ortsansässigen Serben rekrutiert und mit der Bewachung von Erdölbrunnen beauftragt zu haben. Ausdrücklich verneinte er Kontakte zu Belgrad. Als Söldner hätten die "Skorpione" gelegentlich auch anderenorts nach Bedarf und Anfrage ausgeholfen: in Bihac, wo der Moslemführer Fikret Abdic seinen eigenen Krieg gegen Sarajevo führte, oder auf der Seite der bosnischen Serben in der Umgebung von Trnovo, wo die serbischen Linien im Sommer 1995 zusammenbrachen, und zwar zeitgleich mit der Eroberung von Srebrenica.

Mit der Wiedereingliederung von Ostslawonien in den kroatischen Staat wurden 1996 auch die "Skorpione" entwaffnet und aufgelöst. Dass sie nie der serbischen Polizei unterstellt waren, hat neulich auch der serbische Innenminister Dragan Jocic ausdrücklich bestätigt.

"Weiße Adler", "Kaimane", "Tiger", "Panther", "Skorpione" - viele Raubtiervereine gab es, die im Bürgerkrieg auf allen Seiten vorrangig gegen die Zivilbevölkerung gekämpft haben. "Psi rata" nannte man sie - "Hunde des Krieges". Wer jetzt behauptet, Geoffrey Nice habe mit den "Skorpionen" einen Schock in Serbien ausgelöst, kann nur einen höchst selektiven Schock meinen. Denn es gab dort mehrere politische Parteien, die paramilitärische Verbände in den Krieg schickten. Zumeist handelte es sich um nationalistische, monarchistische und andere ideologische Gegner des Jugokommunisten Milosevic, die teilweise heute an der Macht sind. Die "Serbische Freiwilligengarde" zum Beispiel, die vorwiegend in Kroatien operierte, war eine paramilitärische Staffel der Serbischen Erneuerungsbewegung von Vuk Draskovic. Predigt der heutige serbische Außenminister deshalb so leidenschaftlich die bedingungslose Zusammenarbeit mit dem Haager Tribunal? Oder: Von den "Panther-Milizen", die in Bosnien aktiv waren, weiß man, dass sie der Demokratischen Partei des 2003 ermordeten serbischen Premiers Zoran Djindjic unterstanden. Von diesem Kratzer an der Ikone der neuen serbischen Demokratie will heute niemand etwas wissen.

Germinal Civikov

freitag vom 1. Juli 2005


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