Hamlet in Den Haag

Milosevic-Prozess: Der Angeklagte ruft ehemalige Premierminister, Generäle und Diplomaten in den Zeugenstand. Über ihre Aussagen erfährt die Öffentlichkeit so gut wie nichts

"Es gibt mehr Ding´ im Himmel und auf Erden, als Eure Schulweisheit sich träumt, Horatio", zitiert erheitert der Angeklagte und ergänzt: "Das war nun Shakespeare, Mister Nice, allerdings auf Serbisch." Der Ankläger Geoffrey Nice hatte zuvor argwöhnisch angemerkt, der Zeuge der Verteidigung erzähle Dinge, von denen er noch nie gehört habe. Der Haager Prozess gegen Slobodan Milosevic geriet zuletzt einmal mehr zum Theaterstück, in dem Richter, Staatsanwalt und Angeklagter vor laufenden Kameras wie Schauspieler agieren - ein bislang entbehrter Wesenszug dieses immer fragwürdigeren Verfahrens. Dem hätten die Zeitungen wenigstens auf ihren Feuilletonseiten Aufmerksamkeit schenken können, wenn sie ansonsten schon den "Prozess des Jahrhunderts" kaum noch beachten.

Vukasin Jokanovic, Serbe aus dem Kosovo und Zeuge der Verteidigung, sagte aus, er habe als örtlicher Gemeindefunktionär beobachtet, wie die albanischen Behörden im autonomen Kosovo der siebziger und achtziger Jahre die serbischen Einwohner drangsaliert hätten, damit diese Haus und Land verkauften und die Provinz auf immer verließen. Was aufgegeben wurde, so der Zeuge, hätten dann Einwanderer aus Albanien kostenlos erhalten. Mit seinen argwöhnischen Bemerkungen zu dieser Aussage hatte sich der Ankläger besagtes Shakespeare-Zitat eingehandelt.

Aufschlussreich war auch der Dialog zwischen Milosevic und dem Staatsanwalt über Punkt 81 der Anklage, der sich auf den 23. März 1989 bezieht, als in Pristina das Parlament der Provinz Kosovo zusammen trat, um über eine Verfassungsänderung abzustimmen. Obwohl sich die Mehrheit der Kosovo-albanischen Abgeordneten der Stimme enthielt - so der Vorwurf -, habe der damalige Parlamentsvorsitzende die Verfassungsänderungen dennoch für angenommen erklärt.

Ob außer dem Datum etwas an dieser Darstellung des Vorgangs wahr sei, will der Angeklagte von dem Zeugen wissen, bei dem es sich um den nämlichen Parlamentsvorsitzenden Vukasin Jokanovic handelt, der dem Anklagepunkt zufolge auf Weisung aus Belgrad das Votum der Abgeordnetenkammer gefälscht haben soll. Der Zeuge präsentiert einen Stapel alter Zeitungen und schließlich eine Videoaufnahme des Wahlgangs. Die Dokumente belegen, dass an jenem 23. März 1989 von insgesamt 190 Abgeordneten 187 bei der Abstimmung anwesend waren, wovon zehn mit "Nein" stimmten und zwei Stimmenthaltung übten. Der Rest habe für die Verfassungsrevision votiert, sagt der Zeuge, weit mehr als die nötige Zweidrittelmehrheit. Wie erkläre sich der Zeuge dann diesen Passus der Anklage, will Richter Kwon wissen. Ja, weshalb wird der Sachverhalt in der Anklageschrift ganz anders wiedergegeben, fragt auch Richter Jain Bonomy. Der Zeuge weiß darauf logischerweise keine Antwort, vermutlich habe man einfach Behauptungen übernommen, spekuliert er. Zahlen seien aber nun einmal Zahlen, und die seinigen könne jeder überprüfen. Übrigens habe er selbst Jura studiert und zwar in Skopje, meint der betagte Zeuge noch. Damals habe man gelehrt und gelernt, auch der Ankläger sei zur Wahrheitssuche verpflichtet.

Der Angeklagte Milosevic ist mit dem umstrittenen Anklagepunkt 81 aber noch nicht fertig und bringt in Erinnerung, dass ein prominenter Zeuge der Anklage den mit diesem Punkt verbundenen Vorwurf schon voll und ganz bestätigt habe. Ein Zeuge, der vor diesem Tribunal geschworen habe, die Wahrheit und nichts als die Wahrheit zu sagen. Er werde jetzt dessen Aussage vorlesen, und der Zeuge solle bitte sagen, ob auch nur ein Wort davon wahr sei. Ankläger Geoffrey Nice richtet sich auf und protestiert gegen diese ständige "suggestive Fragerei des Angeklagten". Milosevic müsse seine Frage an den Zeugen anders formulieren, verwarnt ihn wie üblich der Vorsitzende Richter.

Darauf schaut der Angeklagte den Ankläger finster an und sagt, er werde nun die Aussage von Ibrahim Rugova verlesen, und der Zeuge soll bitte seinen Kommentar dazu geben. Am 3. Mai 2002 habe der Präsident der Kosovo-Albaner als Zeuge der Anklage vor dem Haager Tribunal erklärt, die Abstimmung über die Verfassungsrevision sei seinerzeit unter großem militärischen und polizeilichen Druck erfolgt, das Parlamentsgebäude sei von Panzern umstellt gewesen, im Plenarsaal hätten Angehörige der Geheimpolizei die Abgeordneten eingeschüchtert, die zehn Parlamentarier, die dagegen votiert hätten, seien danach mit Gefängnis bestraft worden.

Was sage der Zeuge dazu, was wisse er davon? Der Zeuge weiß davon nichts. 180 Journalisten hätten über die Entscheidung berichtet, auch viele ausländische Korrespondenten. Die Panzer um das Parlamentsgebäude und die einschüchternde Geheimpolizei innerhalb des Gebäudes, sie hätten doch jemandem auffallen müssen. Auch von Festnahmen wisse er nichts. Im Übrigen sei es unmöglich gewesen, Abgeordnete festzunehmen, sie hätten ja Immunität besessen, auch im Kosovo.

Wer hat nun vor dem Gericht unter Eid gelogen: der heutige "provisorische Präsident des Kosovo", Ibrahim Rugova, oder der damalige Parlamentspräsident des Kosovo, Vukasin Jokanovic? Doch diese Frage interessiert die Richter offenbar nicht, denn Falschaussagen gehören zur Ästhetik dieses merkwürdigen Tribunals.

Die drei Hauptanklagepunkt über Milosevics Kosovo-, Kroatien- und Bosnien-Politik lassen sich bekanntlich auf einen Satz reduzieren, der Ex-Präsident hat ein "gemeinsames verbrecherisches Unternehmen" (joint criminal enterprise) angeführt, um Großserbien zu errichten. Zu diesem Zweck habe er Kriegsverbrechen, ethnische Vertreibungen und auch einen Genozid in Bosnien begehen lassen. Milosevic will seinen Richtern seit Beginn des Prozesses beweisen, dass ihm schon die Idee eines Großserbien fremd und daher auch nie ein Ziel seiner Politik gewesen sei. Also lässt er Politiker als Zeugen aufrufen, die dank ihres Amtes und ihrer Erfahrungen mit ihm genau dies wissen müssten. Schon der frühere britische Außenminister David Owen verneinte im Zeugenstand, dass ein Großserbien zu den Wertvorstellungen des Angeklagten gehört habe. Und seit es Milosevic wieder erlaubt ist, seine Verteidigung selbst zu betreiben, tut er alles, um Owens Aussage von weiteren Zeugen bestätigen zu lassen. Unter anderem durch den ehemaligen sowjetischen Ministerpräsidenten und heutigen Senator Nikolai Ryshkow, der am 22. November vor den Haager Richtern erklärte, dass er als Vorsitzender des Duma-Ausschusses für Jugoslawien zahllose Gespräche mit der serbischen Führung geführt habe. Von der Vorstellung, ein Großserbien zu bilden, habe er erstmals aus der Anklageschrift gegen Milosevic erfahren. Ähnlich äußert sich am 30. November der einstige russische Premierminister Jewgeni Primakow, als er in den Zeugenstand gerufen ist.

Die Anklagevertreter bleiben ungerührt, sie glauben, ein "gemeinsames verbrecherisches Unternehmen" längst nachgewiesen zu haben, auch wenn Slobodan Milosevic seit Wochen vehement um den Beweis des Gegenteils bemüht ist und das Gericht davon überzeugen will, es hätten sich stattdessen einige westliche Mächte einer Verschwörung gegen Jugoslawien schuldig gemacht.

Manche Prozessbeobachter meinen, diese Strategie des Angeklagten sei strafrechtlich irrelevant, denn nicht die USA, Großbritannien oder Deutschland stünden vor Gericht, sondern der einstige jugoslawische Staatschef. Dies dürfte auch dem Juristen Milosevic klar sein, der aber augenscheinlich keine Gelegenheit verschenken will, seine Wahrheit wenigstens für die Geschichtsschreibung zu Protokoll gegeben zu haben.

So lässt der Zeuge Nikolai Ryshkow wissen, die NATO habe sich schon im Herbst 1998 entschlossen, die Kosovo-Krise durch einen "Aggressionsakt" gegen Jugoslawien zu lösen. General Leonid Iwaschow, Chef der russischen Militärdiplomatie, erklärt sogar, die US-Regierung selbst sei bereits früher, im Dezember 1997 nämlich, der Auffassung gewesen, man müsse Jugoslawien angreifen. Das habe Russland dank seiner Kontakte mit der NATO erfahren. Als dritter russischer Politiker bestätigt auch der erwähnte Jewgeni Primakow derartige Pläne, die besonders vom damaligen Präsidenten Clinton ausgegangen seien. Darüber gebe es geheimdienstliche Erkenntnisse - er als Ex-Chef des KGB müsse das wissen. Daraus gehe auch hervor, dass die US-Administration frühzeitig den Kontakt zur UÇK gesucht habe, obgleich deren Paramilitärs vom UN-Sicherheitsrat als "terroristische Organisation" eingestuft worden seien.

Die Haager Dramaturgie erreicht Shakespearesches Format als der Zeuge Leonid Iwaschow aus vom russischen Geheimdienst abgehörten Telefonaten zitiert, die zwischen der damaligen Außenministerin Madeleine Albright und UÇK-Führer Hashim Thaci geführt wurden. Albright sagt dabei unter anderem ein Referendum über die Unabhängigkeit zu, sollte sich die UÇK mit einer Stationierung von NATO-Truppen im Kosovo einverstanden erklären.

Mit weiteren Zeugen will Milosevic im Januar seine Gegendarstellung vertiefen, von der wir aus den Medien auch dann so gut wie nichts erfahren dürften. Dabei sollte dem Angeklagten freilich eines nicht passieren: Er darf nicht krank werden. Wäre dies der Fall, müssten die zwei Pflichtverteidiger Kay und Higgins wieder den Part Zeugenbefragung übernehmen. Und sie könnten möglicherweise vor allen an die strafrechtliche Relevanz der Aussagen denken - nicht an das Geschichtsbild über den jugoslawischen Bürgerkrieg, dem die Hauptsorge Milosevics zu gelten scheint.

Germinal Civikov

freitag vom 24. Dezember 2004


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