Kein exklusives Recht auf Fairness

Geht der Milosevic-Prozess ohne die Zeugen des Angeklagten zu Ende?

Anfang September hatten die Richter des Haager Jugoslawien-Tribunals beschlossen, dem einstigen jugoslawischen Präsidenten Slobodan Milosevic Pflichtverteidiger zuzuordnen. Begründet wurde dies mit der angeschlagenen Gesundheit des Angeklagten. Daraufhin musste der Prozess unterbrochen werden, da Milosevic auf seinem Recht bestand, sich selbst verteidigen zu können, und viele der von ihm benannten Zeugen ihre Aussage wegen der Entscheidung des Tribunals verweigerten.

Ob denn der Zeuge ein echter Amerikaner sei, möchte Ankläger Geoffrey Nice zunächst wissen. James Jatras, Jurist, Ex-Diplomat und langjähriger außenpolitischer Berater der Republikaner im US-Senat, bestätigt vor dem Haager Gericht, dass er in den USA geboren und aufgewachsen sei. Und wie sehe es denn mit seinem Vater aus - setzt Geoffrey Nice nach. Sei der geborener Amerikaner? Ja, Vater und Mutter wurden auch in den USA geboren, bestätigt der Zeuge. Jatars sagt nicht von sich aus, dass der Vater ein hochdekorierter Oberst der US-Luftstreitkräfte und Militärattaché in Moskau war. Und weiter, wie geht es weiter mit dem Familienstammbaum? - bohrt der Ankläger, und siehe da: die Großeltern des Zeugen kommen aus Griechenland! Und dann möchte der Ankläger bitte noch wissen, welcher Konfession James Jatras angehöre. Der griechisch-orthodoxen etwa?

Als das bestätigt wird, lehnt sich Geoffrey Nice zufrieden zurück. Seine Botschaft an die Richter im Milosevic-Prozess ist klar: James Jatras präsentiert sich zwar als Amerikaner, eigentlich aber ist er orthodoxer Grieche und daher als Zeuge eines Serben zumindest dubios, wenn nicht unglaubwürdig.

Dies alles geschieht am 9. September 2004, während der 289. Sitzung des Tribunals gegen den Ex-Präsidenten Jugoslawiens. Die Videoaufnahme der Vernehmung dieses zweiten Zeugen des Angeklagten ist noch immer nicht freigegeben. "Mister Nice is not nice", kommentiert James Jatras später seine Befragung.

Das Gericht erfüllt der Anklage ihren heißesten Wunsch

Wäre es vor einem US-Gericht denkbar, dass der Staatsanwalt die Glaubwürdigkeit eines Zeugen zu erschüttern sucht, indem er dessen ethnische Herkunft und Konfession ins Spiel bringt? Im Haager Tribunal ist das möglich, ohne die Richter zu verärgern. Ein Gerichtshof, der für sich in Anspruch nimmt, den ethnischen Wahn und dessen Verbrechen zu verfolgen, lässt zu, dass ein Ankläger ungestört seine ethnischen und konfessionellen Vorurteile zur Schau stellt. Unter anderen Umständen würde sich vermutlich auch Geoffrey Nice einen solchen Vernehmungsstil nicht erlauben, doch warum sollte er bei einem Gerichtshof Zurückhaltung üben, der bisher viele Frivolitäten der Anklage durchgehen ließ: Anwälte im Zeugenstand, fragwürdige Video-Mitschnitte als Beweisstücke, Zeugenbefragungen per Video, jede Menge an geschützten Zeugen und geschlossenen Sitzungen, die einen Großteil des Verfahrens vor der Öffentlichkeit verborgen hielten.

Nun also erfüllte das Gericht am 2. September der Staatsanwaltschaft ihren heißesten Wunsch und entzog Milosevic das Recht, sich selbst zu verteidigen. Mehrmals hatte Chefanklägerin Carla del Ponte während der ersten Runde des Prozesses verlangt, dem Angeklagten Pflichtverteidiger zu verordnen, da er politische Reden halte und das Verfahren sabotiere - und jedes Mal hatten das die Richter mit geradezu pathetischen Begründungen abgelehnt: Das Recht, sich selbst zu verteidigen, sei ein fundamentales Menschenrecht und deshalb in den Statuten des Tribunals verankert.

Aber ausgerechnet in einer Prozessphase, da Milosevic seine Zeugen präsentiert, werden ihm Pflichtverteidiger mit der Begründung verordnet: Er sei zu krank, um weiter Anwalt in eigener Sache zu sein. Daher müssten die bisherigen Prozessbeobachter Steven Kay und Gillian Higgins für einen fairen Prozess sorgen, indem sie seine Verteidigung übernehmen. Richter Kwon meinte allen Ernstes, es wäre selbstmörderisch, würde sich der Angeklagte weiter selbst verteidigen. Schließlich sei man auch verpflichtet, einen Selbstmörder daran zu hindern, Hand an sich zu legen.

Dass sich Slobodan Milosevic nicht in einem engen strafrechtlichen Sinne verteidigt, mag zutreffen, obgleich auch in juristischer Hinsicht seine Befragung von Zeugen der Anklage durchaus überzeugen konnte. Andererseits hat der Angeklagte eine Verteidigung in einem rein strafrechtlichen Sinne bisher immer abgelehnt, was sein - international verbürgtes - Recht ist. Milosevic erkennt das Tribunal nicht an und hat mehrfach erklärt, die Prozesstribüne nutzen zu wollen, um in aller Öffentlichkeit seine Sicht vom Zerfall Jugoslawiens kundzutun. Worin also bestehen die Motive der Richter, dem Angeklagten plötzlich zwei Pflichtverteidiger zu verordnen? Sorgen sie sich um Milosevics Gesundheit - oder um die Wirkung seiner Beweisführung durch Zeugen und Dokumente?

Womit das Gericht bei seinem Entschluss ganz gewiss nicht gerechnet hat, das ist der jäh ausgebrochene "Aufstand der Zeugen". Der vom Ankläger Geoffrey Nice ethnisch taxierte James Jatras war der zweite und vorletzte von bislang 23 Vorgeladenen. Als ehemaliger außenpolitischer Berater des US-Senats hatte er Verwicklungen der Clinton-Administration in Waffenlieferungen aus dem Iran an die bosnischen Muslime sowie die Rolle der CIA bei der Teilnahme von Mudschaheddin am Bürgerkrieg in Bosnien bezeugt, die heute mit al Qaida in Verbindung gebracht werden. Jatras zitierte Dokumente, wonach die damalige US-Regierung schon im August 1998 - sieben Monate vor Beginn der NATO-Luftangriffe - den "ultimativen Beschluss" gefasst hatte, wegen des Kosovo-Konflikts gegen Jugoslawien militärisch vorzugehen, sobald sich dafür ein Vorwand bieten sollte.

Der dritte und bislang letzte Zeuge der Verteidigung war der kanadische Historiker Roland Keith, der zu Protokoll gab, als Leiter einer OSZE-Mission im Kosovo 1998/99 sei er auf kooperative jugoslawische Militärs gestoßen, die sein Inspektoren-Team nicht behinderten. Nirgendwo habe er ernsthafte Übergriffe der jugoslawischen Armee wahrnehmen können, während die albanische UÇK durch Angriffe auf Polizeipatrouillen die Lage destabilisiert habe, um harte Reaktionen des Westens zu provozieren. Zu einer "humanitären Katastrophe" - so Keith - sei es im Kosovo erst gekommen, als die NATO ab Ende März 1999 mit ihren Bombardierungen begann.

Weitere Zeugen gab es nicht. Wie Pflichtverteidiger Steven Kay bekannt gab, wollten die Vorgeladenen erst dann vor Gericht erscheinen, sobald der Angeklagte wieder das Recht habe, sich selbst zu verteidigen. James Bissett, früher Botschafter Kanadas in Belgrad, sprach in einem Brief an die Pflichtverteidiger gar von einem "Schauprozess" - er wolle als Zeuge nicht an dieser "Pervertierung des Rechtes" beteiligt sein. Und George Kenney, früherer Balkan-Experte im State Department, ließ wissen, für ihn sei Milosevic nicht schuldig im Sinne der Anklage, doch müsse er sich unter den gegebenen Umständen als Zeuge in dieser Sache verweigern. Eine Entscheidung, wie sie inzwischen 260 der von der Verteidigung benannten Persönlichkeiten teilen. Nur Yves Bonnet, ehemaliger Chef des französischen Geheimdienstes, teilte mit: Er werde aussagen und zwar zugunsten des Angeklagten. Er wisse, Milosevic sei nicht für die Kriegshandlungen seinerzeit in Bosnien verantwortlich zu machen, da die bosnischen Serben nicht unter seinem Kommando standen.

Auf die epidemische Zeugenverweigerung hatte Richter Robinson Anfang September zunächst mit einer Suspendierung des Verfahrens für vier Wochen reagiert, woraufhin Pflichtverteidiger Steven Kay einen Kompromiss ins Gespräch brachte. Danach sollte Milosevic das Recht zugestanden werden, jeweils als erster die Zeugen zu befragen, während die Pflichtverteidiger gewissermaßen als Standby-Anwälte verfügbar blieben - für das Gericht ein inakzeptables Verfahren. Dieses Votum wiederum ließ Kay den Antrag stellen, von seinem Amt entbunden zu werden.

Am 29. September schließlich teilten die Richter schriftlich mit, das Recht auf Selbstverteidigung des Angeklagten sei dem Recht auf einen fairen Prozess untergeordnet. Sollte Milosevic weiterhin jede Kooperation mit den Pflichtverteidigern ablehnen, könnte die Fortsetzung der Beweisaufnahme zur Disposition stehen. Steven Kay konterte noch einmal, es gebe einen prinzipiellen Widerspruch im Verhalten der Richter - einerseits werde der Angeklagte für zu krank erklärt, um sich selbst verteidigen zu können, andererseits sei er gesund genug, um als verhandlungsfähig zu gelten.

Milosevic wird verurteilt, ist Chefanklägerin del Ponte überzeugt

Für jeden unvoreingenommenen Beobachter steht außer Zweifel, dass es mit dem Milosevic-Prozess vorzugsweise darum geht, die Deutungshoheit über das Zerbrechen der jugoslawischen Föderation zwischen 1991 und 1999 zu sichern. Im vorherrschenden Geschichtsbild ist für den ehemaligen Präsident Jugoslawiens der Part eines Verschwörers reserviert, dessen "joint criminal enterprise" darauf gerichtet war, durch Krieg und Vertreibung einen "großserbischen Staat" erstehen zu lassen. Bei einem Schuldspruch würden dieses Muster und damit auch der NATO-Luftkrieg von 1999 strafrechtlich legitimiert. Jene Intervention, von der es hieß, sie sei zwar völkerrechtlich illegal, aus humanitären Gründen aber legitim gewesen.

Milosevic seinerseits sieht bekanntermaßen gleichfalls eine Verschwörung am Werk, allerdings eine zur Zerstörung Jugoslawiens, die hauptsächlich von der Bundesrepublik Deutschland, dem Vatikan und später den USA betrieben worden sei. Dass es in den jugoslawischen Kriegen zu fürchterlichen Verbrechen kam, bestreitet er nicht, wohl aber die eigene politische Verantwortung für die 1991 mit teilweise barbarischen Konsequenzen einsetzende Sezession.

In einem Zeitungsinterview gab sich Chefanklägerein Carla del Ponte jüngst siegessicher: "Milosevic wird schuldig gesprochen und verurteilt." Die "politischen Elemente" seiner Verteidigung könnten die entscheidenden Punkte ihrer Anklage nicht erschüttern.

Diese Gewissheit wirft freilich die Frage auf, warum lässt man den Angeklagten dann nicht diese Elemente präsentieren? Geoffrey Nice machte jedenfalls kein Hehl aus seiner Genugtuung, dass die Entscheidung über die Pflichtverteidiger für Milosevic die Möglichkeit einschränken werde, "das Tribunal als politische Plattform zu benutzen". Diese Beschluss fiel übrigens, nachdem der Angeklagte im Eröffnungsplädoyer zu seiner Verteidigung angekündigt hatte, verschiedene westliche Führer wie Ex-Präsident Clinton und den britischen Premier Blair als Zeugen laden zu wollen.

Soweit wird es nicht kommen, denn offenbar soll auch das geringste Risiko vermieden werden. So könnte der "Prozess des Jahrhunderts" unter Umständen auch ohne die Zeugen des Angeklagten fortgeführt und zu Ende gebracht werden. Schließlich habe Milosevic "kein exklusives Recht" auf ein faires Verfahren, meint Judith Armatta von der Coalition for International Justice.

Der Autor verfolgt den Prozess für mehrere Zeitungen in den Niederlanden.

Germinal Civikov

freitag vom 15. Oktober 2004


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